Das Einsiedler Welttheater - von Tim Kron
Am Anfang schuf Gott Berge, Pflanzen und Tiere. Dann erschuf er die Menschen, damit sie sein Prachtswerk bewundern. Die Menschen jedoch interessierte Gottes Werk weit weniger als ihr kleines, dürftiges Leben. Sie beschwerten sich, dass Gott sie mit ihren Sorgen und Nöten allein liess, und riskierten Fegefeuer und Hölle. So erzählte Calderón de la Barca anfangs des 17. Jahrhunderts.Das Personal hat sich seit Calderón nicht gross geändert: Der Reiche, der Politiker, das schöne Paar, der Bauer, ein Penner, ein ungeborenes Kind, weise und weniger weise Menschen ... Auch ihre Sorge ist dieselbe: Was alle umtreibt, ist die Angst, aus ihrem Leben nicht genug gemacht zu haben. Dann allerdings kündigen Ärzte an, die Medizin zu revolutionieren. Was stets als unverrückbar galt, das Erbgut des Menschen, ist manipulierbar geworden. Es winkt der perfekte Mensch.
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Die neue Verheissung führt zu grossen Hoffnungen, alles scheint heilbar zu sein, es ist nur eine Frage des Geldes und der Zeit. Der Reiche mit seiner Prädisposition für Alzheimer rotiert gleich im Bemühen, sich bessere Gene zu verschaffen. Der Präsident wittert in der neuen Technologie politisches Potential und eine Rettung seiner verkorksten Karriere. In einer fantastischen Szene werden Erwachsene in ewig Jugendliche verwandelt, auf ewig unmündig, doch vollkommen.
Der Handel mit sogenannt perfekten Genen explodiert. Die Geistlichen sehen das Tohuwabohu mit Sorge, sie sehen ihren Einfluss schwinden, das Heil wird nicht mehr bei ihnen gesucht, sondern bei der Medizin. Von all dem unberührt ist das Liebespaar, Leni und Luki, das nur noch daran denken kann, Kinder zu zeugen. Doch auch sie wollen natürlich „die schönschtä, beschtä, gsündischtä“.
Die neue Sehnsucht treibt immer groteskere Blüten: Eine Spitzensportlerin will zwei Jugendliche dazu bringen, sich zu kreuzen, um ihr den Embryo für eine Stammzellentherapie zu überlassen. Frau und Tochter verweigern dem Nüschüür-Bauern das Geld, um sich behandeln zu lassen: „Stirbsch amel nöd a denä paar Exzem.“ Die Wissenschaft schürt auch beim Liebespaar Ängst: Tests sind wichtig, es kann in einer Schwangerschaft so vieles schiefgehen ...
Nur der Penner ist zufrieden, er hat sich der Wissenschaft für Experimente zur Verfügung gestellt und beobachtet interessiert, wie nach und nach sein Wesen deformiert wird. Dem jungen Pater Clemens platzt endlich der Kragen, er erinnert daran, dass ein Mensch ohne Schwächen und Fehler kein vollkommener Mensch ist. „Nöd jedä Hick i dr Birä isch ä Chranked. Äs Gsicht ohni Narbä isch käs mänschlichs Gsicht. Ihr Hohlchöpf!“ Doch die wesentlichen Fragen kann auch er nicht beantworten: Warum sind die Menschen unglücklich? Kann es gut sein zu leiden? Ist es schlecht, nicht leiden zu wollen?
Alles ändert sich, die Zeit, die Welt, der eigene Körper. Ausgerechnet der von medizinischen Experimenten gezeichnete Penner ist es schliesslich, der etwas wie eine Erkenntnis hat: „D Wurscht, won ich geschtert gässä han, isch vor paar Wuchä nu äs läbigs Schwii gsii und dervor äs Rüäbli, wo dr Puur am Schwii i Trog gee hät. Etz isch es ich, morn Dünger, übr’s Jahr äs nüüs Rüäbli. Und wer seit, dass äs Rüäbli oder äs Schwii wäniger glücklich isch als Sie oder ich?“